Hühnertage – Beobachtungen

Ich bin mit dem Blog umgezogen: Hühnertage https://huehnertage.blogspot.com/

Die Vorbereitung

Im Jahr zwei der Covid-Katastrophe und inmitten einer vogelgrippebedingten Quarantäne für Nutzvögel hat sich meine Frau entschlossen, einen Hühnerstall zu bauen. Meine Frau ist Intensivfachkrankenschwester und blickt in Anbetracht der anhaltenden Diskussionen über einen vernünftigen Umgang auf den verschiedensten Ebenen in eine recht düstere Zukunft. Und so haben wir begonnen, unser ohnehin rural geprägtes Leben noch etwas gezielter nutzbringend zu gestalten. Ich habe ein neues Beet angelegt, um verstärkt ökologisches Gemüse anzubauen, alte Sorten und so. Da wir an einem kleinen Dorfteich wohnen hatte meine Frau die Idee „nag-nag-nag“-Enten zu halten. Unsere Hündin „Maddy“ intervenierte vehement und legte Kriegsbemalung an. Außerdem schmecken Enteneier nach Ente. Das muss man mögen wollen. Und da ich – nicht gerade ein Putzfanatiker – auch noch ein Veto einlegte, kam meine Frau durch die Hintertür mit der Hühneridee. Eigentlich ein Traum, den ich schon lange hege, stellte ich mich trotzdem quer, weil das aktuell sehr angesagt ist und weil ich auch Bewusstsein schaffen wollte, dass Hühner eine Verantwortung mit sich bringen, die uns in unserem Bewegungsdrang einschränken wird. Meine Frau aber bewies das, was der Engländer Perseverance nennt: Durchhaltevermögen. Sie brachte Argumente wie Eier, den Weltfrieden, Artenvielfalt und das Versprechen, dass es ihre Hühner und ihre Aufgabe sei, den Hühnerstall möglichst geruchsneutral und keimfrei zu gestalten. Wie gesagt, sie ist Intensivfachkrankenschwester und weiß, was keimfrei bedeutet.


Im vergangenen Jahr sind unsere beiden Kater gestorben und es war mir ein Gräuel, sie zu Grabe zu tragen, obendrein hatte sich ein weiterer, von uns Zottel genannter Kater in Roadkill verwandelt, so dass ich auch ihn beerdigen musste. Bei Hühnern bleibt mir also die Hoffnung, dass ein Fuchs gezielt ein einzelnes Huhn als Nahrung vollständig abtransportiert oder ein Habicht elegant damit entschwebt und kein Marder im Blutrausch ein widerwärtiges Gemetzel hinterlässt. Andererseits: Wie kann man ein Leben gedanklich mit dem Tod beginnen?

Als Musiker ist meine Wahrnehmung der männlichen Hühnerpopulation sehr zwiespältig. Da gibt es den Morgen nach dem Gig. Man hat es gerade ins Bett geschafft, da beschließt ein Hahn er sei wach und wir wollten jetzt aufstehen. Empathie sucht man hier beim Hahn verzweifelt und auch Schallschutzwände sind nur ein geringes Hindernis für die enervierenden Geräusche, die der Wache macht. Der Gedanke an den Tod kehrt zurück. Den Hals umdrehen, eine Redewendung, die metaphorisch ganz anders rüberkommt, als in Realitas. Oft habe ich mich in den vergangenen Jahren gefragt, warum niemand in den USA das Second Amendment anwendet und dem orangenen Gockel Nummer 45 den Hals umdreht, aber eben metaphorisch. Nach der Lektüre des Buches „Nerds“, einer Interview-Sammlung von Sibylle Berg mit Experten diverser Genres war mir die Lösung klar, die meine Frau natürlich längst gefunden hatte: keine Hähne. Sibylle Berg scheiterte zwar daran, die Stimme der Experten dafür zu gewinnen, dass ein Matriarchat oder besser, eine Welt in der verstärkt Frauen in Machtpositionen gelangten, per se eine bessere sei, weil manch Experte befand, dass Frauen sich dann wohl auch entsprechende Herrschaftsmechanismen aneigneten, wie sie jetzt die männlichen Seilschaften an den Tag legten. Aber in unserer angedachten Hühnerwelt war die Auslassung jedweder Männlichkeit durchaus eine, genau genommen, die einzige Option.


Meine Gedanken schweiften bei dem Bild des Hühnerstalls ohne Hahn ab. Ich sah mich zurückversetzt in die Welt der Kartoffeldiäten, Schminktipps und des großzügigen Productplacements. Kurz gesagt, da war ich wieder auf den Fluren von Frauenzeitschriften. Magazine, die natürlich nur von Frauen gemacht werden können, wobei ein schwuler Redakteur im Gartenressort durchaus auch mitarbeiten durfte. Die Hackordnung hier war etwas subtiler, dabei aber keinesfalls weniger brutal, als auf dem benachbarten Flur des Handwerkermagazins. Während sich beim Handwerkermagazin PS-Klischees mit blankem Pragmatismus und verkümmerter Sprache paarten, Sportangeln zur Berufung mancher gehörte, waren bei den Frauenmagazinen die Tastaturen so bunt verschmiert wie die Sprache. War es auf dem einen Flur fast so still wie in einem Aquarium, wurde auf dem anderen Flur gesprochen, meist zeitgleich, gelacht, geweint und auch sehr viel gefühlt. Was beide Käfige verband, war, dass der Blick über den Tellerrand niemals gewagt werden durfte, eine Weitung der Perspektive, etwa durch die Lektüre einer Tageszeitung wie der Süddeutschen wäre unangenehm aufgefallen, während die Bildzeitung zum sofortigen lautstarken Abgleich der Fußballergebnisse des vorangegangenen Wochenendes führte. Man konnte förmlich die Holstendose hören. Auf dem Mädchenflur klirrten derweil die Sektgläser und 15 Stimmen sangen im Gleichklang, nur eben jede das eigene Lied: Output statt Input. Die Analogie zwischen Redaktionsfluren und Hühnerställen ist natürlich nicht aufrechthaltbar, oder? Der Vorteil eines Hühnerstalls liegt auf der Hand: Gemeinsam mit meiner Frau kann ich die Mitarbeiter auswählen und da wir die Sprache des Geflügels nicht sprechen, können wir Lautstärke als Kriterium wählen. Dabei entscheiden wir uns gegen die Spitzen-db-Zahlen der Hähne, aber für das Dauergebrabbel der Damen und vor allem aber für die Eier. Den Verlust der Option auf halbe männliche Hähne mit Paprika-Salzkruste bedauere ich schon ein wenig, weiß aber, dass es die auf jedem Baumarktparkplatz mundfein in der kunststoffbeschichteten Papiertüte gibt. Außerdem bleibt mir dadurch vorerst erspart den Mann zu geben und meine neuen Freunde aus blanker Fresssucht zu töten.
Und nachdem ich mich in der Zweiergemeinschaft mit der Ortswahl des Stalls durchgesetzt hatte, allerdings noch auf meine schriftliche Entbindung von sämtlichen Reinigungs- oder Fütterungspflichten warte, machte ich eine interessante Feststellung: Meine Frau hatte längst die Bauarbeiten eingeleitet, ohne die demokratische Abstimmung abzuwarten. Pakete mit Zement, Sand, verschiedenen Holzstreusorten, Hühnerfutter wurden vom gequält lächelnden Postboten angeliefert. Bei jedem dieser 25-Kilosäcke entschuldigte ich mich bei ihm und verwies auf die coronabedingte Alternativlosigkeit des online-Handels. Meine Frau ging auch sofort zu Werke, verwandelte bei Außentemperaturen von um die -10°C die Gartenlaube in einen Hühnerstall. Volierendraht, Kalk und Balkengerüste, Schlösser und Riegel, ein Futterhaus, ein Hühnerhaus, eine solarbetriebene Klappe rauschten an mir vorbei. Nur das Tragen der 25-Kilosäcke wurde Teil meiner Beteiligung an der Behausung unserer neuen Freundinnen. Meine Frau war glücklich und dankbar, sie strahlte, wenn sie wieder mit gefrorenen Fingern von vollbrachtem Tageswerk zurückkehrte. Und ich freute mich, dass mein heimlicher Traum von eigenen Hühnern sich zu verwirklichen schien. Meine Strategie, keine Verantwortung zu übernehmen und also später als Held oder Gönner dazustehen, wenn ich mich doch beteiligen würde, ist zwar offensichtlich schamlos, aber deswegen nicht weniger effektiv. Die Strategie meiner Frau, einen demokratischen Vorgang einzuleiten und gleichzeitig, das Abstimmungsergebnis vorweg zu nehmen sind ja beides dem aktuellen Tagesgeschäft in der Politik angeglichen Prozesse. Meine Frau ist sozusagen Putin und ich bin Firmenvorstand bei Daimler. Natürlich bewundere ich mich selbst für meine herausragende Geschäftstüchtigkeit. Aber ich liebe auch meine Frau. Mache ich natürlich ohnehin, aber ich musste keinen Giftangriff überleben, konnte mich so fühlen, als sei ich an Entscheidungsprozessen beteiligt gewesen und im übertragenen Sinne wird die Pipeline im Garten weitestgehend ohne mein Zutun fertig gestellt. Dabei ist meine Frau charmant und zugewandt. Eine echte Win-Win-Situation.

Vorfreude und große Leichtigkeit

Die Entstehung des Hühnerstalls hat auch noch ganz andere positive Seiten. So habe ich mich in den vergangenen zwölf Monaten oft massiv geärgert. Zunächst erfuhr ich eine Art Berufsverbot. Konzerte, Veranstaltungen und Kultur wurden abgesagt, dann kam die großzügige Förderung des ökologischen Umbaus mithilfe von Rettungspaketen für ökologisch wertvolle Unternehmen wie Lufthansa, TUI und jetzt auch den Flughafengesellschaften. Die vom Bilderberger Scholz angekündigten Rettungspakete für Soloselbständige hatten hervorragende Sicherungsmechanismen eingebaut. Zwar wollte man die Kulturbranche nicht pauschal unter Generalverdacht stellen, aber um Missbrauch zu verhindern… So wurden also aus Corona-Überbrückungshilfen mit Wums, Konjunkturpakete für Steuerberater. Und soloselbständige Kulturschaffende, die unanständigerweise beim Finanzamt gemeinsam mit ihren Ehepartnern veranlagt werden, sollten mal grundsätzlich schön die Füße stillhalten. Aber glücklicherweise waren die Überbrückungshilfen ja ohnehin nach der biblischen Richtlinie „them that’s got, shall get!“ angelegt und nicht etwa nach Bedarf ausgerichtet. Und jetzt konnte ich mich also endlich mit meiner realen Zukunft befassen: Hühner.


Ich musste mir keine Gedanken mehr darüber machen, dass der Arbeitsmarkt über Technologisierung und künstliche Intelligenz schrumpfen wird und sich das bestehende System ad absurdum führt, beziehungsweise das Monopoly nun in die Endphase geht. Auch die Satelliten von Elon Musk kann ich unbeschwert als Schauspiel am Himmel wahrnehmen. Und Jens Spahns Worte von der Reform des Gesundheitssystems durch Einsparungen kann ich vergessen. Altmaiers Empathie kann ich als historische Tragikomödie sehen, ebenso wie die Bemühungen der SPD und ihres Arbeitsministers Heil um die Genossinnen und Genossen der Arbeiterklasse, die es ja schon recht lange praktisch gar nicht mehr gibt. Eigentlich sollte Heil doch die Statistiken kennen und seine Diktion ändern, wenn er möchte dass die SPD jemals wieder mehr als 15 Prozent der Wähler erreicht. Da müsste er doch nur mal gucken, ob die Arbeiterschaft dafür wirklich noch reicht. Es fällt mir schwer zu glauben, dass es niemanden in der Politik zu geben scheint, der einen weiteren Blick wagt und eine sozial und wirtschaftlich gerechte Utopie entwirft. Aber auch die weltweiten Entwicklungen mit Militärregimen, Autokraten und Nazis, wie all jenen Anhängern solcher Parteien wie Front National in Frankreich oder der AfD in Deutschland können mich nur noch beiläufig berühren, denn ich werde Hühner haben.

Vorgestern ereilte mich allerdings dann doch die Realität in ihrer profansten Art: Am Morgen liefen ein paar wenige begeisterte Nachbarn auf dem Karpfen- und Dorfteich Schlittschuh. Es war reichlich Platz und die Freude groß. Meine Frau bastelte und baute am Hühnerkäfig mit Blick auf den See, denn die Hühner sollen es ja gut haben. Langsam gesellten sich mehr und mehr Menschen zu den Schlittschuhfahrern, viele noch auf Kufen, doch dann veränderten sich langsam die Proportionen. Die Kufen nahmen ab, die Zahl der Menschen stieg. Da es sehr kalt war, kamen sie mit ihren Autos, Pick-Up-Trucks, SUVs und was man eben so braucht, um 500 Meter zum Dorfteich zurück zu legen. Sie standen zusammen in kleinen Gruppen, mal drei, mal zehn, mal zwanzig, sie tranken Glühwein und machten etwas an, was sie für Musik halten: Dumpfe Klänge, dumpfe Wortspiele – „Wie heißt die Mutter von Nicki Lauda? Mama Lauda.“ Es wurde lauter und Flaschen klirrten, ein Feuerfass wurde entzündet. Das könnte man natürlich als Glückseligkeit, Unbeschwertheit und vor allem Ausnahme sehen und sich freuen, schließlich ist so ein Winter ja bisher recht selten. Bei meiner Frau und mir löste die Versammlung andere Gedanken aus: Weniger waren wir besorgt, wie wohl die Hühner auf das Feuer in der Tonne oder die dumpfen Beats oder die betrunkenen Stimmen reagieren würden, mehr beschäftigte uns, wen meine Frau wohl in den kommenden Wochen auf ihrer Intensivstation wiedersehen würde. Niemand trug eine Maske und jeder der eine getragen hätte, wäre ein Spielverderber, eine Spaßbremse, ein Außenseiter oder schlimmer noch, die Stimme der Vernunft gewesen. Wir haben uns schuldig gemacht, denn wir haben nicht reagiert.

Die neue Leichtigkeit, die die Hühner mit sich bringen wird, beflügelt uns geradezu. Meine Frau hat nun geklärt, dass die Bevölkerung am 3. März bei uns einziehen kann, dabei plant sie gezielt eine Multikultigesellschaft: jeweils zwei Hühner der Rassen Araucana, Maran und – etwas simpel von der Namensgebung – Junghenne. Sie legen grüne, schokobraune und braune oder weiße Eier. Uns ist das eigentlich egal. Aber das Prozedere ist festgeschrieben und lenkt ein bisschen von der Lagerhaltung geflüchteter Menschen in Griechenland ab. Denn die Hühner müssen sich auch erst an die neue Umgebung gewöhnen und dürfen keinesfalls gleich unkontrolliert rumrennen – Eier legen sollen sie allerdings sofort. Geflüchtete dürfen zunächst weder rumrennen noch Eier legen oder andere Arbeit verrichten. Unsere Hühner aber werden es nicht nur besser haben, als Geflüchtete in Moria, sondern auch besser als es unsere Landwirtschaftsministerin und Weinkönigin, die Bundes-Julia vorsieht. Wir werden sechs Hühner auf etwa sechs Quadratmetern kasernieren, bevor sie dann auch noch einen gesonderten Teil des Gartens mit Bäumen und eigenem Tümpel erobern dürfen. Die Bundes-Julia sieht für den gleichen Platz durchaus die Möglichkeit 90 Hühner unterzubringen. Aber daran wollen wir uns nicht beteiligen. Wobei die ehrenwerte Ministerin Klöckner vor ein paar Tagen einen Satz geschrieben bekommen hat, den sie voller Freude und Stolz vortrug, der mich zunächst in Erstaunen und Entsetzen gleichermaßen versetzte: „Ohne Artenvielfalt gibt es keine Landwirtschaft und ohne Landwirtschaft keine Artenvielfalt.“ Neben ihr saß die Bundesumweltministerin Svenja Schulze und verzog keine Miene. Eine bravouröse Leistung höchster Selbstbeherrschung bis zur kompletten Selbstverleugnung, hätte ich doch eine ad hoc-Reaktion auf so viel geballten Schwachsinn erwartet. Hier ging es um den Insektenschutz und Frau Klöckner erklärte auch, dass man sich Zeit nehmen müsse, um zu überlegen, welche Schritte man eben einleiten kann und welche nicht, also ob man Glyphosat einfach verbieten könne. Diese Überlegungen bewegen Frau Klöckner nun schon ein paar Jahre und man muss natürlich jetzt auch keine intellektuellen Wunder oder gar Überraschungen erwarten, schließlich gab es sowas im Landwirtschaftsministerium noch nie – wenn es nicht um Subventionen ging. Normalerweise verliere ich grundsätzlich die Fassung, wenn die oberste Lobbyistin der industriellen Landwirtschaft den Mund aufmacht. Diesmal aber, Dank ihrer philosophischen Einlassung fühlte ich mich in meinem Drang Hühner zu halten bestätigt, denn auch hier tun meine Frau und ich ja etwas für die Artenvielfalt. So war ich zum allerersten Mal an der Seite von Frau Klöckner, irgendwie ein erhebendes Gefühl.

Die Suche nach dem Kick

Noch vor dem Eintreffen der Multikultichicks hat mich mein Alterungsprozess beschäftigt und die damit einhergehenden Defizite. Abgesehen von unzeitgemäßer zunehmender und ungewollter Langsamkeit und Entschleunigung stand da die Nivellierung früherer Anlässe für Adrenalinausschüttungen unfassbarer Größenordnung. Nun will ich nicht behaupten, dass die Hühner unbändige Aufregung auslösen, aber sie sind neu. Sie werden unser Leben verändern. Ich erinnerte mich an meine erste Single von Fats Domino, My Girl Josephine und mehr noch an das Gefühl, dass meine zweite Single bei mir und ganz anders bei meiner Umgebung auslöste: Es war 1973 und John Fogerty von Creedence Clearwater Revival schrie etwa fünfzig Mal am Tag via Dual-Plattenspieler mit integriertem Monolautsprecher Comin’ Down The Road. Ich war glücklich. Er schrie, wie ich schreien wollte, seine Gitarre schrie und das Cover der Single zeigte mich oder vielmehr mich, wie ich mich sehen wollte. Ich posierte mit dem Federballschläger vor dem Spiegel. Ich war ein Rockstar und ich schwitzte vor Aufregung und Adrenalin. Räuber Hotzenplotz hatte ausgedient, John Fogerty hatte übernommen.

Im Schalloch in Hamburg kaufte ich meine erste Gitarre, lernte in den folgenden drei Jahren meine ersten drei Akkorde, obwohl die Schmerzen unerträglich waren. Zwischenzeitlich posierte ich zur Erholung immer noch schweißgebadet mit dem Federballschläger vor dem Spiegel und spielte auch mit meinen Freunden Rockstar. Ich war aufgeregt, alles war neu. Ich war begeistert und durstig – physisch und metaphysisch. Zwar blieben die Impulse, die meine Eltern mir boten immens, aber die Aufregung von Comin’ Down The Road kehrte nicht mehr zurück. Schallplatte um Schallplatte wuchs meine Sammlung und rund Tausend Platten später kaufe ich manchmal Alben und höre sie erst Tage später.

Bei Gitarren ist es ähnlich. 1985 bekam ich meine Traumgitarre, eine schwarze Gibson Les Paul Custom. Die Euphorie, das Adrenalin waren unfassbar. Tag und Nacht war sie bei mir die Black Beauty. Und ein paar Jahre hielt der Traum sein versprechen. Ich war treu, aber dann kam der Wunsch nach Diversität, es kam eine Telecaster, eine Stratocaster und viele, sehr viele Gitarren mehr. Bis heute kaufe und verkaufe ich Gitarren, Verstärker, Effektgeräte, suche tagelang den perfekten Ton und Ende immer bei meiner allerbesten Gitarre, der schwarzen Gibson Les Paul Custom und meinem ersten richtigen Gitarrenverstärker, einem MusicMan, den ich bereits 1980 geschenkt bekommen hatte, nachdem ich eine ganze Batterie von Röhrenradios vom Sperrmüll in Serie geschaltet hatte und mit einem großen Knall nebst Stichflamme zur Selbstauflösung bewegt hatte. Da war auch so ein Schub Adrenalin, weniger euphorisch, eher von Angst bestimmt. Und die Sammelwut bei Gitarren und Schallplatten war immer auch von einem Schuldbewusstsein begleitet, dem Gedanken, mir das gar nicht leisten zu können, auch wenn ich längst jede Gitarre mit meinen Gigs bezahlt hatte. Ich hätte ja auch etwas zu essen kaufen können.


Dieser Prozess wiederholte sich dann noch bei Büchern und Füllfederhaltern. Und immer gab es da einen Höhepunkt, einen Zenit, den ich, ohne inne zu halten überschritt, um mich fortan der Beliebigkeit hinzugeben, die die Diversität so mit sich brachte – der Montblanc und Huckleberry Finn. Nun könnte man mich für einen ungehemmten Konsumenten halten und läge sicher auch irgendwie nicht falsch, aber auch schon seit Jahren begleitet mich das diffuse Gefühl, dass da etwas nicht richtig läuft. Da ist nicht nur dieses akute schlechte Gewissen im direkten Zusammenhang mit dem Konsum. Längst hat der Gedanke der Reduktion, der Besinnung aufs Wesentliche überhand genommen.

Bei der Suche nach dem ultimativen Kick spielen Hühner eher eine untergeordnete Rolle. Es drängt sich aber der Kalauer auf: Die Suche nach dem ultimativen Pick. Und wenn man schon dabei ist, der ultimative Klick. Schon ist man bei Tennessee Williams und der Katze auf dem heißen Blechdach. Trank Paul Newman als verkappter Schwuler umgeben von No-Neck-Monstern nicht pausenlos, um den Klick zu erfahren, die innere Ruhe zu erlangen, um zu vergessen? Waren da eigentlich auch Hühner auf dem Hof des Cotton Farmers, gespielt von Burl Ives oder nur das heiße Chick Elizabeth Taylor? Und dann ist da ja noch Jack Nicholson als Anwalt in dem Film Easy Rider. Wann immer er einen Schluck aus seinem Flachmann nimmt, schlägt er mit dem Flügel und sagt „nick nick nick“. Ist also Alkohol der Weg zum ultimativen Nick oder Klick oder Kick oder gar, sich zu fühlen wie ein Huhn beim ultimativen Pick?

Jedenfalls hat sich für mich die Suche nach dem ultimativen oder auch nur dem nächsten Kick als Irrweg herausgestellt: Comin’ Down The Road ist nicht zu toppen! Und viel wichtiger ist wohl die Entdeckung, dass dieser ultimative Kick gar nicht das Ziel sein kann. Je früher man sich mit Gleichmut den Dingen nähert, die Erwartungen reduziert, desto größer sind die Möglichkeiten positiv oder negativ überrascht zu werden. Das Huhn etwa findet immer wieder ein Korn, hat aber bestimmt Momente, in denen es auf ein ganzes Lager trifft oder auf besonders wohlschmeckende und nahrhafte Körner. Aufgeregt ist das Huhn jedoch relativ gleichbleibend, vermute ich. Denn noch sind ja keine Hühner da. Wobei mich derzeit der Verdacht beschleicht, dass in meiner direkten Umgebung eine Metamorphose stattfindet. Wird meine Frau zum Huhn? Sätze wie „ich brauche Herbstlaub“ kommen spontan und locker über ihre Lippen, ganz so als sei es nicht das Gegenteil dessen, was sie seit unserem Umzug aufs Land von sich gab. Bisher wurde Herbstlaub bekämpft. Ich beobachte das weiter, allerdings auch ein bisschen besorgt.

Ursachenforschung

Viele Jahre lebte ich in Hamburg, meiner Geburtsstadt. Kaum ein Fleck auf Erden ist so von Eitelkeiten geprägt, wie die Stadt der Pfeffersäcke. Hier hatte schon in der Nachkriegszeit der berühmte Sprössling einer Pfeffersackdynastie, der Autor Hans-Erich Nossack befunden, „Es ist unmöglich, zugleich Hamburger und geistiger Mensch zu sein. Das sind unvereinbare Dinge.“ Hier trägt man die gesteppte Jägerjacke und fährt sein Kind mit dem SUV zum Kindergarten und das ist kein Klischee, sondern Realität. Beim Wochenendhaus auf dem Lande begegneten mir Kühe, Karpfen und Hühner, die Luft war weniger greifbar, dafür durchaus einzuatmen. Die überaus teure gestapelte Wohnweise wurde mit jedem freien Tag auf dem Lande absurder, die Eitelkeiten und der ewige Wettstreit unerträglicher. Luft-, Licht- und Lärmverschmutzung, unbegreiflich, warum man sich jahrzehntelang freiwillig diesem Stress ausgesetzt hatte. Es folgte der Ruf des Huhns.

Vielleicht war es die Mülltrennung, die den Ausschlag gegeben hat. Alles was man aß, erreichte die Dachgeschosswohnung eingeschweißt, versiegelt und konserviert, selbst das Gemüse war eitel, makellose Cherrytomaten in kleinen Eimerchen, Gurken die sich nicht mehr mit der eigenen Schale gegen Umwelteinflüsse schützen durften, sogenannte Flugpapayas. Es gab prall gefüllte Fleischkühlregale mit Hühnern in Pappschalen auf denen Wiesen abgebildet waren, die die toten Fleischklopse nie gesehen hatten. Es ging nicht mehr, 17-jährige Schulmädchen, denen die Eltern die Brust-OP bezahlt hatten, zogen an einem vorbei, während man selbst täglich das neue eigene welke Fleisch betrachtete, manchmal lachend, aber häufiger peinlich betroffen. In der Eckkneipe erzählte man sich die Geschichten der glorreichen Vergangenheit, von Erlebnissen, von Erlebtem, trank bis zur Besinnungslosigkeit, bis zum Vergessen und bezahlte, bezahlte und bezahlte. Zwar stand alles zum Konsum bereit und auch das tagesaktuelle Geschehen in der Welt war greifbar, aber kein lebendiges Huhn keine lebende Kuh. Überall in der Welt verursachte der Mensch Katastrophen, Twin Towers, Fokushima und dazu das A-Team. Wer das hinterfragte war ein Müsli, ein Öko, ein Weichei oder eben in der heutigen Gegenwart ein Gutmensch. Wer ein von Abstraktion geprägtes Thema besprechen wollte, Politik, Geschichte oder Zukunft war ein Trottel oder bekam das Label arrogant aufgedrückt.


Die gelebte Dystopie ist zwar auf dem Lande auch spürbar, wann immer man Menschen begegnet, nur passiert das eben seltener. Und vielleicht sind Hühner ja bessere Gesellschaft? In jedem Fall machen Hühner nur das, was sie wissen, was sie können, sie haben keine Religionen, beten nichts Abstraktes oder Absurdes an. Hühner opfern nichts und niemanden, sie werden geopfert. Sind sie vielleicht rationaler als der Mensch? Bestimmter sind sie bestimmt. Sie suchen nicht Bedeutung, sondern Futter. Meine Frau und ich legen schon sehr lange großen Wert darauf, nicht mehr so große Müllproduzenten zu sein, freuen uns richtig wenn es von Monat zu Monat weniger wird, was wir in die vier Tonnen kippen. Und Hühner sind, so sagt meine Frau, Resteverwerter, sozusagen fliegende Schweine, wenngleich sie auch nicht wirklich fliegen. Toll wäre natürlich auch, wenn sie unseren Leergutvorrat dezimierten, den wir dauernd zum Altglas schleppen müssen. Aber ohne den wäre es mir nicht möglich gewesen zu überprüfen, ob Jack Nicholson im Easy Rider zum Huhn wird oder was Paul Newman mit dem Klick meint. Und weil man so schnell vergisst, wenn sich die Flasche leert, muss man ja auch wieder von vorne anfangen und Ärzte, Apotheker, Krankenschwestern und Ernährungsberater sagen ja auch am laufenden Meter, man solle viel trinken. Allerdings habe ich, mich vom Newmanschen Klick befreiend, den Weg zum Kefir gefunden, ein wohlschmeckendes brauseartiges Getränk, dass ich mir täglich frisch ansetze. Sehr gut ist der Kefir für mich, wenn ich zu lange Deutschlandfunk gehört habe, in den Nachrichten gesagt wird, dass die Corona-Zahlen nun wieder leicht ansteigen oder sich zwischen 10 und 12 Uhr am Vormittag die Stimme des Volkes einmischen darf. Das ist dann ein bisschen wie auf den Redaktionsfluren bei Frauenzeitschriften oder wie ich es mir im Hühnerstall vorstelle. Früher hätte mich Whiskey oder Rum vor den Folgen des Radiogenusses schützen können, heute bekämpfe ich die Symptome mit Kefir.